Forschungsprojekte

Eine der zentralen Aufgaben des IDRIS liegt in der Förderung und Vertiefung der interdisziplinären Forschung im Bereich der nationalen und internationalen rechtlichen Grundlagen für die Verfolgung von Straftaten und die kriminalitätsbezogene Gefahrenabwehr. Die Forschungsarbeit des Instituts folgt dabei der Überzeugung, dass man in dem praktischen und kriminalpolitisch bedeutsamen Bereich der sog. "Inneren Sicherheit" Disziplinen wie das Strafrecht, das Polizei- und Ordnungsrecht oder auch das Nachrichtendienstrecht angesichts der revolutionären Entwicklung in der Informationstechnologie und einer Zunahme transnationaler Kriminalitätsstrukturen nicht mehr sinnvoll isoliert voneinander betreiben kann. Das IDRIS verfolgt dieses Ziel insbesondere durch verschiedene Forschungsprojekte und Promotionsvorhaben mit thematischem Bezug zu seinem Forschungsauftrag.

Forschungsprojekt "Sicherheitsgesetzgebung und Überwachungsgesamtrechnung"

Projektpartner
  • Institut für Digitalisierung und das Recht der Inneren Sicherheit (IDRIS) der Ludwig-Maximilians-Universität München
  • Ausschuss Gefahrenabwehrrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV)
  • Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP)
LaufzeitJuni 2021 bis Juni 2024
Projektverantwortliche
  • Prof. Dr. Mark A. Zöller (LMU München)
  • Prof. Dr. Robert Esser (Universität Passau)
  • RAin Lea Voigt (DAV)
  • RAin Katharina Schmidt (DAV)

I. Ausgangslage

In den Sicherheitsgesetzen von Bund und Ländern wird seit Jahrzehnten „aufgerüstet“, d.h. der Fundus an bereichsspezifischen Ermächtigungsgrundlagen für Grundrechtseingriffe von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten ausgeweitet. Motor für diese Gesamtentwicklung ist dabei insbesondere der Fortschritt im Bereich von Digitalisierung und Informationstechnologie. Dieser führt gerade zwangsläufig zu einem massiven Druck auf die Entscheidungsträger aus Rechts- und Innenpolitik, den Sicherheitsbehörden auch einen ausreichenden Rahmen für den Einsatz neuer Ermittlungs- und Überwachungstechnologien zur Verfügung zu stellen.

Mit der exponentiellen Entwicklung im Bereich der Informationstechnologie hat sich somit auch für den Bund und die Länder die Schlagzahl für die Reformgesetzgebung im Bereich von Straf- und Strafprozessrecht, Polizeirecht und Nachrichtendienstrecht massiv erhöht. Dabei ist ein erheblicher Qualitätsverlust bei der Gesetzgebungspraxis zu beobachten. Viele Gesetzesvorhaben verlieren sich in einem Geflecht aus Gesetzgebungskompetenzen, Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Rechtsstaatliche Korrekturen durch das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsgerichtshöfe der Länder oder gar auf europäischer Ebene durch den Gerichtshof der Europäische Union (EuGH) und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) können häufig erst Jahre später und dann meist auch nur marginal erfolgen.

Besonders besorgniserregend erscheint die Tatsache, dass Überlegungen zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit neuer Eingriffsbefugnisse meist nur isoliert auf sich selbst bezogen sind. Der Frage, wie sich etwa neue Überwachungsbefugnisse in die bereits bestehende Landschaft an Eingriffsmaßnahmen auf Bundes- und Landesebene in zahlreichen Spezialgesetzen einfügen, wird regelmäßig auf politischer Bühne keinerlei Bedeutung geschenkt. Das überrascht schon deshalb, weil das BVerfG bereits in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung aus dem Jahr 2010, also bereits vor mehr als zehn Jahren, vor einer unkontrollierten Kumulation verschiedenster Überwachungsmaßnahmen gewarnt hat. Dort heißt es (BVerfGE 125, 260, 323):

„Umgekehrt darf die Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten nicht als Schritt hin zu einer Gesetzgebung verstanden werden, die auf eine möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrenprävention nützlichen Daten zielte. Eine solche Gesetzgebung wäre, unabhängig von der Gestaltung der Verwendungsregelungen, von vornherein mit der Verfassung unvereinbar. Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer vorsorglich anlasslosen Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten setzt vielmehr voraus, dass diese eine Ausnahme bleibt. Sie darf auch nicht im Zusammenspiel mit anderen vorhandenen Dateien zur Rekonstruierbarkeit praktisch aller Aktivitäten der Bürger führen. […] Die Einführung der Telekommunikationsverkehrsdatenspeicherung kann damit nicht als Vorbild für die Schaffung weiterer vorsorglich anlassloser Datensammlungen dienen, sondern zwingt den Gesetzgeber bei der Erwägung neuer Speicherungspflichten oder -berechtigungen in Blick auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen zu größerer Zurückhaltung. Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss.“

Dieses Diktum wird heute in Anschluss an Roßnagel (NJW 2010, 1238) mit dem Begriff der „Überwachungsgesamtrechnung“ bezeichnet.

Auch in seinem Urteil zum Bundeskriminalamtgesetz (BKAG) aus dem Jahr 2016 hält das BVerfG eine Totalüberwachung der Bürger für unzulässig (BVerfGE 141, 220, 280 f.):

„Mit der Menschenwürde unvereinbar ist es, wenn eine Überwachung sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und derart umfassend ist, dass nahezu lückenlos alle Bewegungen und Lebensäußerungen des Betroffenen registriert werden und zur Grundlage für ein Persönlichkeitsprofil werden können. Beim Einsatz moderner, insbesondere dem Betroffenen verborgener Ermittlungsmethoden, müssen die Sicherheitsbehörden mit Rücksicht auf das dem ‚additiven‘ Grundrechtseingriff innewohnende Gefährdungspotenzial koordinierend darauf Bedacht nehmen, dass das Ausmaß der Überwachung insgesamt beschränkt bleibt.“

Dies hat zur Folge, dass der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einzelner Überwachungsmaßnahmen nicht isoliert betrachten darf. Vielmehr muss er bei der Einführung neuer oder der Erweiterung bestehender Befugnisse das Wechselspiel und die Überschneidungen mit den bereits bestehenden Überwachungsbefugnissen im gesamten Recht der Inneren Sicherheit beachten. Er hat somit bei jedem einschlägigen Reformvorhaben normativ zu entscheiden, ob auch mit der beabsichtigten Neuregelung das Ausmaß der Gesamtüberwachung der Bürgerinnen und Bürger noch rechtspolitisch hinnehmbar und verfassungsrechtlich vertretbar ist. Insofern bedarf es dringend einer gesamtgesellschaftlichen Debatte darüber, wo die absoluten Grenzen für den informationellen Zugriff des Staates auf die Bürger verlaufen.

II. Projektziele

Diese längst überfällige Debatte über die theoretische Bedeutung und die praktische Auswirkung der Überwachungsgesamtrechnung soll mit dem Forschungsprojekt „Sicherheitsgesetzgebung und Überwachungsgesamtrechnung“ angestoßen und intensiv geführt werden.

Dabei geht es zunächst in einem ersten Schritt darum, das deutsche Recht der Inneren Sicherheit auf sein Überwachungs- und Eingriffspotenzial für die Grund und Menschenrechte „zu vermessen“. Es wird somit zunächst einmal rein deskriptiv eine Art „Überwachungsatlas“ erstellt, der die einschlägigen, bereits existierenden Gesetze auf Bundes- und Landesebene einer detaillierten Bestandsaufnahme unterzieht. Auf diese Weise wird am IDRIS als wissenschaftliche Basis eine umfangreiche Datensammlung bzw. Datenbank der Überwachungsbefugnisse des deutschen Rechts der Inneren Sicherheit entstehen, die nach und nach auch der interessierten (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll.

In einem zweiten Schritt sollen diese bestehenden Überwachungsmaßnahmen sodann auf ihr Kumulationspotenzial überprüft werden. Es wird also unter Einbeziehung rechtspraktischer Erkenntnisse darum gehen, typische Fallkonstellationen zu bezeichnen und phänomenologisch zu beschreiben, in denen Grundrechtsträger (z.B. islamistische Gefährder, Fußball-Hooligans oder Corona-Leugner) typischerweise von mehr als nur einer Eingriffsmaßnahme betroffen sind, in denen sich also staatliche Überwachungsmaßnahmen in besonderem Maße bis hin zur Gefahr einer Totalüberwachung kumulieren.

Der Kern und zugleich dritte Schritt des Forschungsprojekts soll schließlich darin bestehen, aus den Erkenntnissen der beiden vorangegangenen Projektschritte die notwendigen juristischen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für eine gute Gesetzgebungspraxis im Bereich des Rechts der Inneren Sicherheit zu ziehen. Hierfür sollen Best Practice-Regelungen für Gesetzgebungsvorhaben im Recht der Inneren Sicherheit erarbeitet werden.

III. Vorgehensweise

Das Forschungsprojekt ist wissenschaftlich am Institut für Digitalisierung und das Recht der Inneren Sicherheit (IDRIS) der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München verankert.

Geplant sind insgesamt zehn Arbeitssitzungen in München und Berlin einschließlich einer abschließenden Redaktionssitzung, die jeweils durch einschlägige Arbeitspapiere der Projektmitglieder vorbereitet werden. Die Auftaktsitzung hat am 18. Juni 2021 in digitaler Form stattgefunden.

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden in Buchform publiziert und auf einer Tagungsveranstaltung der interessierten Öffentlichkeit präsentiert. Der Abschlussband wird den von den Projektmitgliedern gemeinsam erarbeiteten Entwurf sowie die zu Aufsatzbeiträgen ausgearbeiteten Arbeitspapiere enthalten.

IV. Kontakt

Bei Fragen, Ideen und Anregungen zum Projekt wenden Sie sich gerne jederzeit an Herrn Prof. Dr. Mark A. Zöller (mark.zoeller@jura.uni-muenchen.de) oder Frau Dr. Tanja Niedernhuber(tanja.niedernhuber@jura.uni-muenchen.de).